Sonntag, 11. Januar 2009

Das bemannte Monster

Gisela Ermel
Rätselhaftes Motiv in Mittelamerika
In: Q'Phase, Nr. 12, Kassel 2008

Die Ikonographie Mesoamerikas bietet noch immer eine ganze Reihe von Motiven, um deren Bedeutung und Sinn bis heute in der Fachwelt gerätselt und heftig debattiert wird. Eines dieser Motive ist das, was die Archäologen u.a. als Monstermaul bezeichnen. Das Motiv kommt in zwei Varianten vor: einmal mit einer Person im Innern, aber auch allein ohne eine Person. Es ist eines der für die Paläo-SETI-Forschung interessantesten Ikonographiemotive, wenn man es mit modernen und unvoreingenommenen Augen betrachtet. Es wurde über 2700 Jahre hinweg immer wieder dargestellt auf Keramik, auf Wandgemälden, in Bilderhandschriften, es wurde in Stein gehauen und als Architekturdetail in Bauwerke integriert.
Der erste Forscher, der auf dieses spezielle Motiv aufmerksam machte, war der Archäologe Matthew Stirling, der in den 1940er Jahren in der Olmekenstätte La Venta ausgrub. Er fand eine Steinstele, die eine Person zeigt, anscheinend im offenen Maul eines Jaguars stehend. Immer wieder wurden in den folgenden Jahren weitere Beispiele für dies rätselhafte Motiv entdeckt. Auf der Konferenz für Präkolumbische Ikonographie - "The Cult of the Feline" -, die im Oktober 1970 abgehalten wurde, behauptete Georg Kubler, ein Wissenschaftler von der Yale University, dass dies Motiv, das sowohl Merkmale eines Jaguars oder einer Schlange als auch eine Kombination aus beidem aufweisen kann, ganz sicher olmekischen Ursprungs sei und somit in die früheste Zeit der mittelamerikanischen Kulturen zurückgehe.
1987 schrieb David Grove seine Arbeit über die olmekische Stätte Chalcatzingo. Auch hier gab es mehrere Beispiele dieses von etlichen Forschern inzwischen so genannten "Jaguarmauls", unter anderem als begehbares Steinmonument, aber auch als Relief an einer Felswand, eine Person zeigend, die in so einem "Monstermaul" sitzt. Grove beschrieb das Felsrelief als "hoch stilisiert und jenseits jeglicher Identifizierbarkeit".
Kann man diesem außergewöhnlichen Motiv aus präastronautischer Sicht näher kommen? Ein Versuch lohnt sich.
Kultur, wie wir sie verstehen, begann in Mittelamerika mit einem Paukenschlag um das Jahr 1200 v.Chr., als Steinzeitbauern einen plötzlichen Kultursprung machten. (Siehe dazu auch meinen Artikel "Das Rätsel von San Lorenzo") Sie begannen praktisch von einem Tag auf den anderen damit, wie am Reissbrett entworfene Anlagen und Städte auf der Basis eines astronomisch-geometrischen Layouts zu erbauen, ohne zuvor die dazu nötigen Zwischen- und Entwicklungsstufen zu durchlaufen. Gleichzeitig fingen sie an, Dinge darzustellen, die phantastische und - nach unserer heutigen Interpretation - unrealistische Elemente enthielten. In der auf den Kultursprung folgenden Zeit wurden die Abbildungen von Wesen und Figuren, die biologisch unmöglich sind, zu den Lieblingsmotiven der Olmeken. Personen, die aussehen wie eine Mischung aus Mensch und Jaguar oder aus Vogel und Mensch, geflügelte schlangenartige Objekte sowie eben das angebliche Monstermaul. Auffallenderweise tragen just die Personen, die in so einem "Monstermaul" sitzen oder stehen, nichtmenschliche Merkmale und fast immer eine Art Helm.
Ein solches "Monstermaul" stellen, stark stilisiert, die sog. Altäre oder Throne dar, von denen bis heute kein Archäologe weiss, was diese riesigen Steinklötze eigentlich sein sollen. Sie ähneln von der Form her in den typischen Beispielen ein klein wenig heutigen aber hinten geschlossenen Schreibtischen, und meist sitzt unter der Deckplatte wie in einer Nische eine behelmte Person. Der Bereich um die Nische herum ist ganz deutlich als stilisiertes "Maul" dargestellt, so jedenfalls interpretieren es fast alle Ausgräber olmekischer Stätten.






Altar 4 in La Venta:
Über der Person in der Nische
das sog. "Monstermaul"



Ein typisches Beispiel hierfür ist der Altar 4 in La Venta. La Venta ist die wichtigste Stätte einer zeitlich gesehen zweiten Phase der olmekischen Kultur, die - nach dem plötzlichen und unerklärlichen Ende von San Lorenzo - um ca. 900 v.Chr. begann. Man sieht in einer Nische unter dem "stilisierten Jaguarmonstermaul" (so David Grove) eine Person sitzen mit einer helmartigen Kopfbedeckung, einem Cape und einem Gegenstand auf der Brust. Das Gesicht der Person ist nicht mehr zu erkennen, da es von den Olmeken selbst absichtlich beschädigt wurde. Das gleiche Motiv weisen noch weitere "Altäre" in La Venta auf. Schon in San Lorenzo, in der ersten Phase der Olmekenkultur, wurde solch ein Steinmonument hergestellt mit demselben Motiv.






Monument 19 aus La Venta













Monument 19 in La Venta zeigt das Motiv "Person in Monster" auf eine etwas andere Weise, doch sind sich die Archäologen inzwischen ziemlich einig darin, dass hier dennoch das gleiche Grundmotiv gemeint war. Diesmal sitzt eine Person in etwas, das als "Schlange" dargestellt bzw. interpretiert wurde. Die Person trägt einen komplizierten, den Kopf umschliessenden und das Gesicht freilassenden Helm, vor der Nase ein typisches Atemsymbol, das seit dem plötzlichen Beginn der Olmekenkultur zur Grundausstattung aller sog. Jaguarmenschen - durch die Bank weg behelmt - gehörte. Die Ausgräber haben keine Ahnung, was diese Darstellung bedeuten soll und spekulieren über einen "auf einer Schlange reitenden Schamanen", obwohl doch klar ersichtlich ist, dass diese Person eher in als auf einer "Schlange" sitzt. Die Schlange, so wird weiter spekuliert, könne auch eine "Feuerschlange" sein. Das Steinmonument stand einst in der Nähe von drei Kolossalköpfen und war mit seinem Stellplatz ebenso wie diese und andere Monumente Teil des astronomisch-geometrischen Stadtlayouts.


Monument 1 in Chalcaztingo:
"El Rey"

Eine ganz ähnliche Darstellung gibt es in Chalcatzingo, dem olmekischen Aussenposten in Morelos, zeitgleich mit La Venta. Es handelt sich um das als "El Rey" bekannt gewordenen Monument 1, ein hoch auf dem Berg hinter der Stätte an einer Felswand angebrachtes Relief. Da sitzt eine Person in einem, wie etliche Ausgräber meinen, "im Profil gesehenen Jaguarmaul", trägt einen komplizierten Kopfputz, eine "Jaguarmaske" und hält einen unidentifizierbaren Gegenstand in der Hand. Was mag hier abgebildet worden sein? Die Archäologen sind ratlos und debattieren darüber, ob hier eine Person in einer Höhle sitze oder auf einer Wolke oder in einem Objekt, das sich im Himmel befinde wegen der Wolken um es herum. Kent Reilly III. fragte sich bereits 1968, ob hier eine Person dargestellt sei, die im Himmel sitze oder auf einer Wolke. Uneinig ist man sich auch darüber, was aus dem "Monstermaul" hervorkomme. Sprachvoluten, symbolisch für ein Geräusch? Oder sei dies ein Pflanzenmotiv in Verbindung mit einem Jaguarmaul? Das macht keinen Sinn, da klingen die herausschallenden Geräusche schon logischer. Ist hier derselbe Event dargestellt wie auf Monument 19 in La Venta?





Monument 9 in Chalcatzingo:
El Portuzuelo

Gibt es einen Zusammenhang zwischen "El Rey" und Monument 9 in Chalcatzingo, bekannt als El Portuzuelo, das Tor? Dieses Steinmonument stellt ein allein stehendes "Jaguarmaul" dar. David Grove meinte, es könne sich um die Frontansicht des Objektes handeln, in dem die El Rey-Figur sitzt. Das Monument war zur Zeit der Olmeken senkrecht aufgestellt gewesen, und es müssen oftmals Menschen durch das offene Loch gekrochen sein, so das Ergebnis der archäologischen Forschungen. Laut David Grove stand El Portuzuelo auf dem wichtigsten Plattform-Mound der - selbstverständlich ebenfalls nach astronomisch-geometrischem Layout erbauten - Stadt. Niemand weiss, was das Monument darstellt. Einen künstlichen Höhleneingang? Einen Eingang in die Götterwelt? Oder in die Unterwelt? Ein begehbares Erdmonster? Oder den Eingang in ein "Monstermaul"? Und damit den Eingang in ein Objekt, mit dem man sich "im Himmel" aufhalten bzw. mit dem man zwischen den Wolken verkehren konnte?
Chalcatzingo bietet noch weitere Beispiele dieses Motivs. Monument 13, ebenfalls ein Relief an der Felswand hinter der Stätte, zeigt eine "nichtmenschliche Person im kleeblattartigen Maul einer überirdischen Kreatur", so die Interpretation von David Grove. Auch dieses Maul erinnert an das Tor-Monument. Die Person trägt einen massiven Helm, wie ihn so viele von den Archäologen so genannte "Supernaturale" tragen. Noch interessanter ist Monument 5, ebenfalls an dieser Felswand zu finden. Hier sieht man einen "Drachen auf einem Himmelsband über Wolken" mit einer menschlichen Figur im Maul, die halb daraus hervorschaut. Spätestens bei diesem Felsbild beginnt man zu ahnen, was die Olmeken mit dieser Motivgruppe um all die bemannten und unbemannten Monstermäuler zeigen wollten: eine behelmte Person, die in etwas hineingeht oder sich in etwas befindet, das mit dem Himmel assoziiert bzw. als im Himmel befindlich vorgestellt wird. Sollte es sich hierbei um die primitive, nach dem Hören-Sagen dargestellte Version eines Flugobjektes handeln?
Dann zeigt eine Skulptur von Las Limas, die Michael Coe als den Regengott Tlaloc "inmitten einer Feuerschlange" interpretierte, das gleiche Grundmotiv. Ebenso wie ein Basrelief von Cerros de la Canteras, dessen Motiv Pina Chan als einen Mann im Maul einer Schlange beschrieb, aber im Profil gesehen. Beide Stätten sind zeitgleich mit La Venta, doch das Motiv einer Fliegenden Schlange geht ebenfalls zurück auf den Anfang der Olmeken, denn bereits eine Zeichnung auf Keramik aus Blackmann Eddy, einer Außenstelle von San Lorenzo, in der wie am Fliessband Keramik hergestellt wurde, weist bereits eine Vogelschlange auf.




Wandmalerei in der Höhle von
Oxtotitlan

Es gibt eine interessante Wandmalerei aus der La Venta-Zeit. Es handelt sich um eine Zeichnung in der Höhle von Oxtotitlan. Da sitzt eine Person, die eine Art Vogelkostüm und einen Vogelhelm trägt, auf einem Ding, das aussieht wie ein typischer Altar aus La Venta oder San Lorenzo. Die Bedeutung dieser Wandmalerei ist ebenso unbekannt wie die der sog. Altäre. Was bedeutet der Zusammenhang zwischen einem mit Vogelattributen ausgestatteten Menschen, sitzend auf etwas, das als "Monstermaul" gedeutet wurde? Noch dazu trägt der Höhleneingang von Oxtotitlan selbst eine Zeichnung, die laut David Grove ebenfalls ein "Jaguarmonstergesicht" darstellen soll - somit ein begehbares. Dass ein "Monstermaul" einfach nur einen Höhleneingang symboliserien sollte, kann ich mir schlecht vorstellen, denn das wäre in diesem Fall ja unnötig doppelt gemoppelt: ein Höhleneingang mit einem symbolischen Höhleneingang verziert. Das macht keinen Sinn.
Gehen wir ein paar hundert Jahre weiter. Die Zapoteken in Oaxaca standen schon von Anfang an - 1200 v.Chr. - mit den Olmeken in Verbindung. In San José Mogote, einer Art Werkstatt-Aussenposten von San Lorenzo, wurden schon damals Objekte aus Eisenerz wie am Fliessband hergestellt und Personen mit nichtmenschlichen Attributen abgebildet. Um das Jahr 500 v.Chr. aber war das Motiv, das Elemente von Jaguar, Vogel und Schlange miteinander zu phantasievollen Monumenten verband, ein typisches und stereotypes Zapoteken-Motiv geworden.
Etwa 350 v.Chr. - oder schon viel früher - erbauten die Olmeken eine ihrer typischen astronomisch-geometrischen Städte, diesmal nahe der Pazifikküste, bekannt als El Baúl. Hier findenwir nicht nur den berühmten "Astronauten" in Stein gehauen - für die Archäologen inzwischen ein Beispiel für einen Werjaguar (siehe meinen Vortrag "Vom Werjaguar zum Regengott") -, sondern auch die "Monstermäuler", und zwar sowohl bemannt als auch unbemannt. Monumten 34 zeigt eine Art "stilisiertes Werjaguargesicht", und dasselbe Motiv findet sich auf etlichen weiteren Monumenten der Stätte. Ein weiteres Monument zeigt eine menschliche Figur, die aus einem "Schlangerachen" herausschaut.
Möglicherweise begannen die Maya bereits um das Jahr 300 v.Chr. mit dem Bau ihrer großartigen Stuckmasken. Es handelt sich um Stuckskulpturen an Bauwerken in Form von "Jaguar"- oder "Schlangenmäulern", oft noch ausgestattet mit Jaguarklauen, Ohrschmuck, "Brillenaugen" und Glyphen. Die Archäologen sind auch hier ziemlich ratlos und reden u.a. von einer "Regengott-Monstermaul-Stuckmaske" und anderem Unsinn. Diese architektonischen Ausschmückungen sind eventuell viel älter als die späteren Pyramiden. Man findet sie in Tikal, Uaxactun und Nakbe, in Stätten, die bereits während der Zeit der Olmeken begannen. Hier wurden eventuell bereits die Monstermäuler mit der "Bemannung" (Besatzung), dem "behelmten Jaguarmenschen" vermischt.



Zwei Stelen aus Izapa, die zeigen,
wie eine behelmte Person in etwas
hineinsteigt oder aus etwas
heraussteigt, das aussieht
wie ein Schlangenmaul


In diese Zeit fallen auch Ikonographiebeispiele aus Izapa. Hier gibt es u.a. eine Stele, die ein uns nun schon geläufiges Motiv aufweist. Sie zeigt eine Person - oder einen Gott, so schlagen etliche Ausgräber vor -, die mit einem Beim aus einem Ding herausschaut, das eine Mischung aus Monstermaul und Schlange zu sein scheint. Eine andere Stele in Izapa zeigt ebenfalls eine Person in, auf oder über einem "Monster". Es gibt noch weitere derartige Szenen, bei denen Personen sich innerhalb eines "Monstermauls" befinden oder von einem solchen umrahmt werden.






Stele aus Izapa



















Stele C in Tres Zapotes

In Tres Zapotes, einer späten Olmekenstätte, sind es zur selben Zeit auf Stele C sogar drei Personen in einem Monstermaul. Die bekannteste Stele aus Tres Zapotes ist Stele C, die ein frühes Long Count-Datum trägt: 32 v.Chr. Weniger bekannt ist, dass auf dieser Stele ein "Werjaguar" mit Helm auf, in oder über einem dieser Monstermäuler dargestellt wurde.
Um die Zeitenwende waren die Motiv-Elemente in Teotihuacan zu einem kombinierten Jaguar-Vogel-Schlangen-Motiv geworden, darunter das von den Ausgräbern so benannte "Pfoten-Flügel-Motiv". Die Maya statteten um dieser Zeit weiterhin ihre Gebäude mit Monstermaul-Stuckmasken aus. Aber auch das "bemannte Monstermaul" wurde nicht vergessen. Eine Stele in Copan aus der Zeit um 250 n.Chr. zeigt einen Herrscher mit einem bombastischen Kopfschmuck (die ausgeschmückte Weiterentwicklung des einfachen kopfumschliessenden Helmes der ersten Olmekenzeit), auf einem unverkennbaren "Monstermaul" stehend.






Stele in Copan: ein Herrscher
auf einem Monstermaul stehend




Gut fünfhundert Jahre später ist dieses bizarre Motiv noch immer "en vogue". Der sogenannte Zoomorph P von Quirigua zeigt etwas, das den Archäologen vorkommt wie eine Person in einem Schildkrötenpanzer, weshalb das Monument auch als die "Grosse Schildkröte" bekannt wurde. Ein anderer Deutungsversuch lautet, der Regengott Chac erscheine im Himmel aus einem Schilkrötenpanzer heraus. Man fragt sich auch, ob das Monument als Altar gedient habe.




Quirigua: Zoomorph P

Schaut man sich das Ding aber genauer an, so erkennt man das gute alte "Person in Monster"-Motiv wieder. Die Person wird mal als Regengott, dann als Werjaguar, dann wieder als kostümierter Herrscher interpretiert, denn sie trägt den typischen Helm und einen "Jaguarmund" - Merkmale, die als Stilelemente sowohl des Werjaguars als auch des Regengottes gelten, zu denen andernorts noch seine "Brillenaugen" gehören.






Skizze der Vorderseite des Zoomorph P
aus Quirigua








Seitenansicht des Zoonmorp P
aus Quirigua






Ebenfalls eine Person in einem Monstermaul stellt der Zoomorph G in Quirigua dar, auch diesmal vorne aus einer Öffnung herausschauend, selbstverständlich wie immer mit Helm ausgestattet. Beide Objekte - der angebliche Schildkrötenpanzer und das Monstermaul - sind mit zahlreichen technisch anmutenden Zeichnungen ausgestattet, von denen bislang niemand eine Ahnung hat, was sie bedeuten.
Um das Jahr 800 n.Chr. erfreute sich das Jaguar-Vogel-Schlangen-Motiv anscheinend großer Beliebtheit, denn es kommt allein in Chichen Itza gut fünfhundert Mal vor, unter anderem in Zusammenhang mit den in der Paläo-SETI-Forschung so gut bekannten "herabsteigenden Göttern". Auch in Chichen Itza sieht man Personen in den Rachen geflügelter Schlangen.
Zu Beginn der Postklassik um 900 n.Chr. ist das Motiv um Jaguar, Vogel- und Schlangenelemente bereits 2000 Jahre alt und noch immer erkennbar, obwohl es viele Änderungen durchmachte.
Noch in der Zeit kurz vor und nach der Eroberung Mexikos durch die Spanier tummelten sich in Bilderhandschriften Schlangemäuler, in die Personen hineingehen, Wolkenschlangen (Codex Zouche-Nuttall), auf denen Personen emporsteigen (Seldenrolle) oder ein "Bienenmonster mit Schlangenkopf, aus dem ein menschlicher Kopf herausschaut" (Codex Borgia). In einem Monstermaul-Höhleneingang sieht man einen "Feuerschlangengott mit Schildkrötenzügen" (Seldenrolle), und Codex Borgia bietet zudem noch eine von Rauch umgebene Schlange, in der eine Person mit Brillenaugen sitzt, oder Köpfe, die aus einem Schlangenrachen herausragen, "feuerspeiende Drachen", aufgesperrte Schlangemäuler neben Göttern in einem Boot, eine fliegende "Windschlange", eine wie ein Schiff geformte fliegende Schlange sowie vogelartige Objekte, aus denen Personen herausschauen, um nur ein paar wenige Beispiele zu geben.
Man sollte vielleicht endlich den Begriff "Monstermaul" durch die viel ehrlichere Bezeichnung "unbekanntes Objekt" ersetzen. Dann würden auf einmal behelmte Personen in unbekannten Objekiten sitzen oder stehen, die mit Zeichen ausgestattet oder versehen sind, die auf den Himmel oder das Fliegen hinweisen. Würde dann dieses uralte Motiv nicht doch einen Sinn machen? So gesehen hätten die Künstler zur Eroberungszeit, die den Gott Quetzalcoatl auf einer gefiederten Schlange sitzend und durch den Himmel fliegend darstellten, noch immer die gleiche Szene abgebildet, wenn sie diesen Gott auch besser - oder originalgetreuer - hätten in die fliegende Schlange setzen müssen.
Nachtrag: Als ich meinen Artikel "Stufen zum Himmel" schrieb, war mir noch nicht klar, in welchem Zusammenhang das "Monstermaul" - oder "kosmisches Monster" oder "Tor zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen" oder wie auch immer die phantasievollen Deutungsversuche der Archäologen lauten - mit dieser ausgefallenen Architektur steht, mit der ein Maya-Herrscher eine Reise in den Himmel imitierte und nachspielte. Nachdem ich für meinen Monstermaul-Artikel recherchiert hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Am Ende der Korridore und vor dem endgültigen Aufstieg in den Himmel wartete auf den Herrscher das Monstermaul - eben der Gegenstand, der ihn in den Himmel trägt. Dort, wo man einen Herrscher auf diesem Monstermaul stehend darstellte, hatte man nicht mehr genau verstanden, worum es ging. Dort, wo man das Monstermaul begehbar und bemannt darstellte, wusste man noch, dass man in das Ding hineinsteigen musste, um damit zwischen den Wolken zu fliegen, so wie dies sehr gut in Chalcatzingo gezeigt wird: einmal die behelmte Person in diesem Objekt sitzend, inmitten von himmlischen Wolken (El Rey), dann das begehbare Monstermaul (El Portuzuelo, das Tor-Monument), durch das bei irgendwelchen Riten offenbar hindurchgegangen wurde. Wer weiss, vielleicht wurde hier der Einstieg in das auf dem Boden abflugbereit stehende Objekt nachgespielt...
Literatur:
Coe, Michael D.: Olmec Jaguars and Olmec Kings. In. E. P. Benson: The Cult of the Feline: A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972
Coe, Michael D. / Rex Koontz: From the Olmec to the Aztecs. New York 2002
Covarrubias, Miguel: The Eagle, the Jaguar and the Serpent. New York 1954
Cyphers, Ann: From Stone to Symbols: Olmec Art in Social Context at San Lorenzo-Tenochtitlan. Washington, D.C., 1999
Ermel, Gisela: Das Heilige Bündel der Azteken. Gross-Geraus 2007
Ermel, Gisela: Das Rätsel von San Lorenzo. In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 2, Beatenberg 2006
Ermel, Gisela: Flammenbaum und Sky Lords. In: Sagenhafte Zeiten, Nr. 1, Beatenberg 2007
Furst, Peter T.: The Olmec Were-Jaguar-Motif in the Light of Ethnographic Reality. In: E. P. Benson: Dumbarton Oaks Conference of the Olmec. Washington, D.C., 1968
Grove, David C.: Ancient Chalcatzingo. Austin, Texas, 1987
Grove, David C.: Olmec Felines in Highland Central Mexico. In: E. P. Benson: The Cult of the Feline. A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972
Joralemon, Peter D.: A Study of Olmec Iconography. In. Studies in Pre-Columbian Art and Archaeology, Nr. 7, Washington, D.C., 1971
Kubler, George: Jaguars in the Valley of Mexico. In: E. P. Benson: The Cult of the Feline. A Conference in Pre-Columbian Iconography. Washington, D.C., 1972



Mehr zum Thema:
Gisela Ermel:
Das Heilige Bündel der Azteken.
Kultursprung, Masterplan und Götterstimmen:
Mittelamerikas rätselhafte Vergangenheit
Ancient Mail Verlag, Gross Gerau 2007
ISBN 978-3-935910-44-6
272 Seiten, zahlreiche Abbildungen








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